Kommentar: Minimalismus ist auch nur ein Label
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Kommentar: Minimalismus ist auch nur ein Label

Seien wir mal ganz ehrlich: Brauchen wir wirklich einen neuen, mehrdeutigen Begriff für etwas, dass es schon immer gab? Und was macht eigentlich ein solches Label mit uns?

Schon seit langem übe ich mich darin, mein Leben zu vereinfachen — angefangen bei meinem physischen Besitz über soziale Kontakte, Arbeit, Freizeitaktivitäten bis hin zu Interessen, Gedanken und Ideen.

Irgendwann habe ich dann vom Minimalismus gehört. Nicht nur, dass er seit über einem halben Jahrhundert ein Architekturstil und ein Sammelbegriff verschiedener Musikstilistiken ist. Seit einiger Zeit wird er auch für das einfache Leben und die Abkehr von Wachstum und Konsum herangezogen.

Der Wunsch nach Einfachheit

Dabei gab es das »einfache Leben« eigentlich schon immer. Vor einigen Jahrhunderten war es einfach eine Lebenssituation, in die man freiwillig oder unfreiwillig geriet.

Dann kam die Industrialisierung, danach die Digitalisierung. Das Leben wurde immer bunter, lauter, vielfältiger und brachte uns neben zahlreichen Vorzügen auch Nachteile wie Stress und Reizüberflutung. Deshalb steigt der Wunsch nach Einfachheit insbesondere in den Industrieländern drastisch, denn viele Menschen sind mit der Situation überfordert.

Zum Thema Minimalismus sind in Deutschland seit etwa 2010 zahlreiche Blogs aus dem Boden geschossen. In sozialen Netzen finden sich Gleichgesinnte in Diskussionsgruppen und auch die Presse hat das Thema bereits in vielen Artikeln und Dokus behandelt.

Minimalismus als Verzicht?

In all diesen Medien finde ich aber immer wieder den Tenor, dass sich Minimalismus vorwiegend über den Konsumverzicht und Einschränkungen beim Hab und Gut definiert.

Da gibt es Anleitungen, wie man den Kleiderschrank ausmistet, die Wohnung reinigt und den Keller entrümpelt. Immer wieder ist von Verzicht und Einschränkung die Rede. Und das löst in unserer heutigen Zeit ja eher negative Gefühle aus.

Auch fängt es beim Ausmisten erst an, stressig zu werden. Denn natürlich wird nicht alles einfach weggeschmissen — schließlich wäre das ja nicht besonders nachhaltig. Es muss überlegt werden, was verkauft, verschenkt oder gespendet werden kann und an welche Stellen man sich dabei wenden sollte. Vielen fällt es außerdem schwer, die Dinge überhaupt loszulassen.

Und selbst, wenn man einmal etwas neu kaufen oder aufwerten möchte, fällt es niemandem so richtig leicht. Schließlich überlegt man sich dann über Wochen oder gar Monate, welcher Gegenstand der optimale ist und ob man ihn denn auch wirklich braucht. Das erinnert doch irgendwie einem anderen Begriff, der ebenfalls sehr kritisch beäugt werden sollte: Quantified Self.

Die berühmten 100 Dinge

In jedem zweiten Beitrag über den Minimalismus wird uns erklärt, dass der durchschnittliche Deutsche 10.000 Dinge in seinem Haushalt habe. Quasi als »Gegenbewegung« seien 100 Dinge für Minimalisten vollkommen ausreichend. Dass dies auf einem Recherche-Fehler beruht, habe ich bereits an anderer Stelle erläutert.

Stimmen, die behaupten, Menschen wären nur dann Minimalisten, wenn sie maximal 100 Dinge besäßen, sind glücklicherweise größtenteils wieder verstummt. Trotzdem hält sich noch immer der Aberglaube, man müsse mit besonders wenig auskommen. Dabei wäre es doch sehr viel wichtiger, für sich selbst das Wesentliche zu finden. Frei nach dem Motto:

Minimalismus ist das Reduzieren auf das Wesentliche — in allen Bereichen. — Auf Twitter teilen

Immer wieder gibt es Diskussionen darum, ob man noch einen bestimmten Gegenstand brauche. Besonders beliebt sind hier technische Geräte wie etwa der Fernseher, das Smartphone oder gar der Computer. Es scheint, als bräuchten viele angehende Minimalisten eine Anleitung, welche Dinge denn noch »dazu gehören« und welche nicht. Nicht selten wird dann drohend der Zeigefinger erhoben.

Die Invasion der anderen Art

Gerade in der letzten Zeit fällt mir immer stärker auf, wie auch andere Gruppen zum Minimalismus hinzu stoßen. Natürlich überschneiden sich immer und überall verschiedene Ansichten. Allerdings habe ich in diesem Fall eher den Eindruck, als wolle eine andere Art den Minimalismus für sich einnehmen.

  • Anhänger des Tiny-House-Movement, Wohn- oder Bauwagen-Liebhaber und digitale Nomaden leben ja automatisch recht minimalistisch, denn ihr Hab und Gut ist ja auf wenige Quadratmeter oder gar auf den Rucksack beschränkt.
  • Auch kann dem Minimalismus sicher eine gewisse Nachhaltigkeit nicht abgesprochen werden. Dementsprechend häufig kommt es vor, dass sich hier auch Öko-Unterstützer, Selbstversorgungsexperten und Begründer der Plastikfrei-Bewegung zu Hause fühlen.
  • Natürlich darf auch die Meditation und Achtsamkeit nicht fehlen. Ebenso die große Yoga-Community, die sich auf Minimalismus-Seiten tummelt.
  • Nicht zu vergessen Veganer, Vegetarier und andere selbsternannte Ernährungsspezialisten, die ihren Verzicht verschiedener Lebensmittel im Minimalismus begründet sehen.

Manche der Gruppen verhalten sich dabei vorbildlich, tragen ihren Teil zur wachsenden Minimalismus-Bewegung bei und diskutieren maximal die gemeinsamen Schnittpunkte. Andere hingegen scheinen den Minimalismus komplett erobern zu wollen, um möglichst alle Menschen von ihren eigenen Ansichten überzeugen zu können.

Vom Label zum Dogma

Labels sind für uns Menschen ja durchaus wichtig, denn es würde uns sehr schwer fallen, ohne sie überhaupt kommunizieren zu können. Aber Labels werden auch schnell von ziemlich genauen Definitionen überzogen.

Wenn dann also plötzlich der gemeine Minimalist 100 Dinge hat, im Bauwagen wohnt, Plastik vermeidet, im Garten sein eigenes Gemüse anbaut und auf Fleisch und tierische Produkte verzichtet und andere Ansichten nicht mehr ernst genommen werden, ist der Schritt zum Dogma gar nicht mehr so weit.

Und dass wir gar nicht mehr weit davon entfernt sind, entnehme ich derzeit der Stimmung im Netz zum Thema Minimalismus. Es kommen doch immer mehr hitzige Diskussionen auf, die einerseits gar nicht so richtig zum Thema passen wollen, andererseits aber immer weiter einengen und das Leben bei weitem nicht mehr einfach machen.

Dann macht es mir aber auch keinen Spaß mehr, mich auch nur ansatzweise als Minimalist zu bezeichnen. Individualität ist für mich ein sehr wichtiges Gut, auf das ich gar nicht verzichten kann. Auch meine Freiheit würde damit gehörig eingeschränkt werden.

Deshalb überlege ich derzeit ernsthaft, ob ich das Label »Minimalismus« nicht hinter mir lassen und stattdessen wieder zum »einfachen Leben« zurück kehren sollte. Denn das Wort »einfach« begründet sich ja wenigstens in der Subjektivität.

Bist Du selbst MinimalistIn? Hast Du ähnliche oder gänzlich konträre Erfahrungen gemacht? Oder kennst Du diese Beschränkungen auch in anderen Bereichen? Berichte darüber in den Kommentaren!